• Rolf Schmid «Echt jetzt?»
    DIES UND DAS VON HIER UND ANDERSWO

    TEXTE & NOTIZEN

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Ein hoffnungsloser Fall

Aber eben nur fast

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Die Bar ist voll und es ist laut. Sie stolpern zur Tür rein und sind zu fünft. Alle erstaunlich gut gelaunt und auffallend schlecht gekleidet. Davon nimmt aber niemand Notiz. Es ist kurz nach Mitternacht und der Dresscode scheint sich gerade irgendwo zwischen zwanglos und stillos eingependelt zu haben. Die Mädchen und ihre Männer machen also keine Ausnahme. Sehen alle aus, wie wenn sie bei einem Wanderzirkus arbeiten würden. Die Vorstellung ist aus, die Manege leer, jetzt haben sie noch ein bisschen Spass verdient. Also scherzen sie und schieben sich durchs Gedränge, irgendwohin, wo noch etwas Platz ist. Sie haben Glück, finden sogar einen freien Tisch, organisieren sich die fehlenden Hocker und eine Runde Getränke und geben sich dann die Kante. Sie sind zwar nicht schön aber haben es schön. Und das ist ja auch schon etwas, denn es gibt ja auch andere:

Sie steht allein da. Die unscheinbare, kleine Frau mit den kurzen Haaren und den dunklen Augen. Sie hält sich an ihrem Rotwein und einem Glas Wasser. Ob sie noch nüchtern ist? Schwer zu sagen. Dass sie verzweifelt ist, sieht man hingegen auf den ersten Blick, denn sie macht keine Anstalten, ihr Unglück zu verbergen oder gar zu überspielen. Natürlich redet niemand mit ihr. Sie würde jeden bereits nach zwei Sätzen unaufhaltsam hinunterziehen in die trüben Untiefen ihres ausweglosen Elends. Darauf steht niemand. Also steht die kleine Frau einfach da. Mitten im Lokal. Traurig und stumm. Und ist damit so allein, wie man es nur mitten unter Menschen sein kann. Fast tut sie einem ein bisschen leid. Aber eben nur fast. Die offensichtliche Einsamkeit wird sogar ihr nach einer Weile zu viel. Sie nimmt ihre beiden Gläser und wechselt den Platz. Umständlich und wahnsinnig unsicher steht sie im Trubel. Hat nicht einmal die Kraft, etwas zu sagen, damit andere ihr Platz machen, sondern wartet einfach, bis es sich von selbst ergibt, stumm und dumm. Und wird übersehen und übergangen. So dauert ihre Reise ins Glück natürlich ziemlich lange. Nach einer Ewigkeit steht sie dann doch in der gegenüber liegenden Ecke der Bar. Ganz am Ende. Immer noch mit den selben beiden Gläsern und der selben Verzweiflung. Ein hoffnungsloser Fall. Nicht so wie sie:

Sie ist etwas über dreissig. Sie hat ein gewinnendes Lachen, rote Haare, ein paar Kilo Babyspeck zuviel und sieht damit aus wie ein erwachsenes Kind. Mit ihrem ultrakurzen Pony erinnert ihr Gesicht an ein Pinup aus den Vierzigern. Sie steht am Tisch nebenan und hat etwas zu erzählen. Ich weiss nicht, ob es wichtig ist, ich höre einfach, dass es viel ist. Sehr viel. Sie redet pausenlos und verdeutlicht und unterstreicht ihre Geschichten dazu elegant und eloquent mit den Händen. Vielleicht hat sie den ganzen Tag noch zu niemandem einen Satz oder ein Wort gesagt und holt das jetzt alles nach. Oder war drei Monate in Afrika wegen einem Hilfsprojekt oder ein Jahr in Untersuchungshaft wegen einem Drogendelikt. Aber ich schätze eher nicht, dazu sieht sie dann doch zu langweilig und zu wenig authentisch aus. Ihre beiden Freundinnen beteiligen sich am Gespräch, natürlich nur sporadisch, denn gegen Babydolls Redeschwall haben sie nicht den Hauch einer Chance. Dann kommt er:

Er ist ein Bär. Er hat ein halbvolles Bier in der Hand und wohl ein halbes Dutzend bereits im Bauch. Den schiebt er jetzt, gut gelaunt und schwer schwankend durchs Gedränge vor der Bar. Er trägt eine rotweisse, etwas zu kleine Mütze, wie ein Bub am Strand. Damit drückt er aus, wie lustig er ist und wird nicht müde, es auch noch handfest und lautstark zu beweisen. Auf seinen Runden durchs Lokal schüttelt er Hände, macht High five, umarmt Kollegen, fällt irgendwelchen Frauen ungefragt und ungestüm um den Hals und lallt dann zusammenhanglosen Schwachsinn: »Am Schluss kommt ja alles aufs Gleiche raus, nicht wahr! Was kann man schon machen!« Aber sicher, Kamerad, ein Philosoph bist du, nichts weniger! Dann löst er sich wieder, die Frauen atmen hörbar auf, er macht kehrt und wuchtet seine volle Blase wieder einmal Richtung Pissoir. Dort macht er Platz fürs nächste Glas und die nächste Runde durchs Lokal. »Gell, eins haben wir ja immer noch – oder ist es nicht so ist es doch!« Ja aber ganz sicher, Meister, aber sowas von dermassen!

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