• Rolf Schmid «Echt jetzt?»
    DIES UND DAS VON HIER UND ANDERSWO

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Good old new York

Canal Street

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Hochsommer in Manhattan. Ich war wieder zu spät aufgestanden, rauchte eine Zigarette zum Fenster hinaus und machte mich dann auf den Weg. Ich überquerte die 5th Avenue, nahm bei der Central Station die Metro und fuhr runter bis zur Canal Street. Als ich dort ausstieg, hatte ich vergessen, was ich hier wollte und weshalb ich jetzt eigentlich da war. Das erinnerte mich an meinen Grossonkel Leonhard, der 1964 zur Landesausstellung nach Zürich fuhr. Oder an »À bout de souffle«, den Klassiker von Jean-Luc Godard, diesem ewigen Langweiler, dessen Filme ich nie zu Ende schauen mag. Ganz im Gegensatz zu »Il sorpasso« von Dino Risi, den ich mehrmals in ganzer Länge gesehen hatte.

Da ich vergessen hatte, was ich wollte, hatte ich nichts zu tun und sah im Moment auch absolut keinen Grund, etwas daran zu ändern. Also schlenderte ich ziellos durch die Gegend, schaute den schwarzen Frauen nach und kam mir vor wie Denzel Washington in einer Drehpause. Bei einem asiatischen Strassenhändler kaufte ich mir, ohne gross zu feilschen, eine Rolex Submariner mit schwarzem Zifferblatt und Stahlarmband. Der Klassiker schlechthin, und das für läppische fünfundzwanzig Dollar. Das erinnerte mich an meinen Grossonkel Leonhard, der nie eine Uhr trug und trotzdem so gut wie nie zu spät kam.

Plötzlich fiel mir wieder ein, weshalb ich eigentlich hier war. In diesem Moment, löste sich der rechte Schnürsenkel. Mir kam Alice Weidel in den Sinn und ich fragte mich, was ich an ihr eigentlich so attraktiv fand. Ich schnappte mir eine Cola und trank die eiskalte Büchse in einem Zug leer. Das erinnerte mich erstaunlicherweise an gar nichts, was mich ausserordentlich irritierte. Diese plötzliche Verwirrung wiederum liess mich an Vaslav Nijinskis letzten Auftritt in St. Moritz zurück denken, 1919 im Suvretta House. Nervenzusammenbruch. Und an Robert Walser natürlich, den Erfinder des Winterwanderns.

Obwohl ich meine Rolex erst eine Stunde trug, ging sie schon fast fünf Minuten nach. Ich zog sie aus und schmiss sie weg. Schade drum, aber auch egal. Was hatte ich denn erwartet für die paar Dollar! Ich zündete mir eine Zigarette an.

Neben mir hielt scheppernd ein gelbes Taxi, dessen linker Kotflügel notdürftig mit Klebband fixiert war. Eine ziemlich korpulente Frau stieg umständlich aus. Sie trug eine weisse Bluse und knallenge, weisse Sommerhosen. Durch den dünnen Stoff zeichnete sich ihre Unterwäsche ab. Gaugin zeichnete auch Frauen in Unterwäsche ab. Trotzdem gefällt mit Rodin besser. Und Camille Claudel natürlich. Die begabte Muse hat zu Debussy getanzt wie Nijinski. Und sogar mit dem Komponisten geschlafen. Eine kurze Affäre. Und dann ein langer Abschied: Dreissig Jahre psychiatrische Anstalt. Diese Abgründe überall! Und schon wieder ist mein Schnürsenkel aufgegangen.

Ich schaute zu den Spitzen der Wolkenkratzer, die sich wie ausgeschnittene Silhouetten einer Collage vom Hintergrund abhoben. Der Himmel leuchtete heute in einem besonders freundlichen Blau, das alle Möglichkeiten offen liess. Wie ein leerer Lottoschein.

Aus dem Buch »Palaver« von Reto Casparis mit freundlicher Genehmigung des Autors. – Ja genau, richtig geraten, es gibt weder das Buch noch den Autor.

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