Emsig rührte Ursi, die schöne Sennerin mit dem wilden blonden Haarschopf die dampfend warme Milch um, die sie soeben ab dem vom Russ vieler Jahrzehnte geschwärzten Herd in der einfachen Alphütte weit oberhalb Surava genommen hatte, um sich vor Tagesanbruch, wie sie es seit vielen Sommern jeden Morgen zu tun pflegte, einen grossen wärmenden Schluck zu gönnen und damit Kraft für ihr schönes aber auch strenges Tagwerk, welches ihr auch heute bevorstand, zu schöpfen.
Ohne Groll schaute die hübsche Magd mit dem sommersprossigen Gesicht und den bergseeblauen Augen zum kleinen Küchenfenster hinaus, welches sie, nachdem sie vor einer Viertelstunde aufgestanden war, zügig einen Spalt geöffnet hatte, durch welchen jetzt die frischkalte Luft des frühen Morgens in ihre kleine, dunkle Kammer, die ihr als Küche und Schlafgemach gleichermassen diente, stömte, und dachte nach, denn ihr Leben schien ihr auch hier, weit weg von Surava auf der Alp Ozur etwas oberhalb Prada Sot, gar nicht so einfach, vor allem der antiquierte Wortschatz dieser verschachtelten und oft ziemlich holprig formulierten, nur von einzelnen Kommas, respektive Kommatas unterbrochenen, überlangen Sätze, strapazierte schon seit vielen Alpsommern, Abschnitten und Buchseiten ihre Nerven und erforderte immer wieder das letzte Quäntchen Geduld der jungen Frau.
Leise seufzend hob Ursi das alte, verschlagene Chacheli mit ihren feingliedrigen Händen zum bleichen Mund, trank beherzt einen grossen Schluck warme Milch und schaute wieder zum schmalen Fensterspalt hinaus, durch welchen sich just in diesem Moment ein paar zusätzliche, komplett überflüssige Adjektive in die handlungsarme Geschichte drängten und zwängten, während sich auf der gegenüberliegenden Talseite gerade die ersten goldenen Sonnentrahlen lautlos sich über die schroffen Berggipfel des stillen Albulatales ergossen und die majestätisch dunkel schweigenden Waldhänge mit einem Mal in einen viel verheissenden morgendlichen Glanz tauchten.
Ursi schloss die Augen und es traf sie wie ein Blitz: keinen Tag mehr, keine Zeile und keine Seite länger wollte sie Teil dieser Geschichte und dieser abgegriffenen Klischees mehr sein, das wurde ihr jetzt mit einer beinahe erschreckenden Klarheit und einer noch nie dagewesenen Endgültigkeit bewusst. Eher würde sie sich umbringen.
Emsig packte sie ihre karge Habe, schwang den halbvollen Rucksack auf den Rücken, verliess die Alphütte hastig, liess auch ihre Geschichte hinter sich und lief mit grossen Schritten, ohne sich je umzudrehen ins Tal hinab und ins Leben hinaus und kehrte nie mehr auf die Alp und in die Erzählung zurück. Im Leben kam die schöne Sennerin natürlich auch nie an, denn sie war ja reine Fiktion, was ihr selbst natürlich nicht mit letzter Konsequenz bewusst war.
Mit freundlicher Genehmigung das Autors.