• Rolf Schmid «Echt jetzt?»
    DIES UND DAS VON HIER UND ANDERSWO

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Ganz schön hässlich

Einfall der Sandalen

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Von Kopf bis Fuss auf Ferien eingestellt. Unbeschwert in den Süden fahren und zwei Wochen herumlaufen wie ein Idiot. Gut aufgelegt und schlecht angezogen. Bankprokuristen, Sachbearbeiter und Filialleiter zeigen Mut und der Welt ihre haasträubenden Beine. Eine Zumutung auch die Gattinen. Sie, die sonst stilsicher Tischtücher für Kindergeburtstage und Kravatten für Firmenessen aussuchen, zwängen ihre Kilos jetzt bedenkenlos in enge, weisse Shorts und schrecken vor pinkfarbenen T-Shirts nicht zurück, selbst wenn »My Pussycat« oder »Beach Club Bitch« drauf steht. Überfünfzigjährige laufen plötzlich herum wie unterprivilegierte Teenager aus der Banlieue. Als ob es im Süden keine Spiegel gäbe.

So fallen jedes Jahr ganze Horden von Sandalen in die Urlaubsorte ein, stürmen Kleidershops und plündern Boutiquen auf der verzweifelten Suche nach sich selbst. Was der Koffer nicht hergibt, besorgt man sich vor Ort. Ein Griff ins Regal und mit etwas Glück sieht der Primarlehrer danach aus wie ein Surfer. Meistens allerdings bloss wie ein verkleideter Primarlehrer. So angezogen wirkt er natürlich nicht besonders anziehend. Ein weiterer Griff ins Regal und die Frau eines Bankberaters sieht aus wie die Frau des Bankberaters, die aussehen möchte, als wäre sie nicht die Frau eines Bankberaters. Ein hoffnungsloses Unterfangen und trotzdem macht es glücklich – vor allem die Boutiquenbesitzer.

Zu den unverzichtbaren Insignien echter Ferien gehört natürlich auch die Sonnenbrille. Der unscheinbare Mann umgibt sich mit der Aura des Geheimnisvollen, die etwas nichtssagede Visage seiner Frau wird zum visuellen Erlebnis. Und so sitzen sie dann, wie Komparsen eines schlechten Films an der Promenade als lebender Beweis des Siegs des Praktischen über das Ästhetische.

©2024 Hardy Hemmi | mail@hardyhemmi.ch