Sehnst du dich nicht nach einem Hauch von Leben,
Nach einem heissen Arm, dich fortzutragen
Aus diesem Sumpf von öden, leeren Tagen,
Um den die bleichen, irren Lichter weben?
Hugo von Hofmannsthal
Drei Tage im Glück. Am letzten Tag hält es die Seidenbluse nicht mehr aus. Am Frühstückstisch muss und bricht es aus ihr heraus, unvermittelt und ungefragt. Ihr finales Fazit, ihre zusammengereimte Zusammenfassung, damit auch die weniger Feinsinnigen und Schöngeistigen begreifen, was sie hier wahnsinnig Wertvolles und Wunderbares erlebt haben am Wochenende. Plötzlich redet sie lauter, doziert am Sechsertisch in Zeitlupe und betont jede Silbe überdeutlich, wie bei einem Diktat für zurückgebliebene Realschüler: »Was mier alli do zäme i de Toskana händ dörfe erläbe, isch öppis schampar Schöns und ganz, ganz Bsunders gsi. Die unglaublich positiv Energie, wo mier gspürt händ. Und alli Mensche do sind so glücklich und so gsund.« Ja gesund, hat sie tatsächlich gesagt! – »Gesundheit ist Pflicht, Krankheit ist Schande«, kommt mir in den Sinn – ist aber vielleicht etwas gar weit hergeholt.
Das Glückliche und das Gesunde, das gefällt der einfachen Frau in ihrer pastellfarben aquarellierten Welt aus Ayurveda, Biogemüse und Achtsamkeit. Das sind wohl die Träume ihrer einsamen Stunden, Tage und Nächte: Schöne Menschen mit Geld und Geist, gebügelten Leinenhemden und verwegenen Künstlerfrisuren. Maler, Dichter und Denker allesamt, Filmer, Musiker und Produzenten. Dunkle Schattierungen und Dissonanzen haben in der Welt der harmoniesüchtigen Kindergärtnerin natürlich keinen Platz. Und die Idee, dass dieser Wochenendkosmos, dieser inszenierte Ausnahmezustand aus Poeten, Pianisten und Parmaschinken nur eine dünne Haut, eine Membrane ist, dieser Gedanke ist ihr keinen Moment gekommen. Armes Ding! Was sich dahinter verbirgt, würde sie wahrscheinlich nicht wissen wollen, und verkraften können sowieso nicht.
Aber jetzt hat sie eh keine Zeit, diesen existenziellen Dingen auf den Grund zu gehen. Die Seidenbluse muss unbedingt zum Frühturnen, das hier irgendwie Body Movement Experience oder so ähnlich heisst. Und hat kein Auto. War ja klar. Aus Überzeugung und weil sie keins braucht. Andere der Gruppe haben Autos, was sie natürlich nicht so gut findet. Ausser, wenn sie wohin muss. Dann findet sie es immer schampar nett.