• Rolf Schmid «Echt jetzt?»
    DIES UND DAS VON HIER UND ANDERSWO

    TEXTE & NOTIZEN

  • Rolf Schmid «Echt jetzt?»
    DIES UND DAS VON HIER UND ANDERSWO
    TEXTE & NOTIZEN
EIN STRAUSS NEUROSEN

Quattro Formaggi

| |

Kommissar Casparis’ tiefster Fall

Seit zweienhalb Stunden sass Komissar Casparis zerknittert wie ein alter Sitzsack in seinem Wagen mitten im Nebel und beobachtete den Eingang des heruntergekommenen Wohnblocks in Arbon. Es war Freitag und es war Feierabend. Ausserdem war der Fall längst abgeschlossen. Herrgott nochmal, wieso konnte er die alte Geschichte nicht endlich auf sich beruhen lassen! Immer wieder griff er nervös zum Feldstecher und nahm das Ende der schmalen Zufahrtstrasse ins Visier. Jetzt musste doch einfach etwas passieren! Aber es passierte nichts, rein gar nichts. Es wurde nur noch nebliger und dunkler. Vielleicht waren es aber auch nur seine vollkommen übermüdeten, alten Augen. Und jetzt liefen auch noch die Scheiben des Wagens an! Na bravo, da sass er jetzt also in seinem alten Volvo, praktisch blind. Er sah er nicht mehr sehr viel und schaute drum auch nicht mehr sehr oft. Aber er dachte an diesen Fall, an den vielversprechenden Anfang und ans klägliche Ende. Dann näherte sich ein Auto. Also doch!

Dreiundzwanzig Uhr zweiundvierzig. Reto Casparis war mit einem Mal wieder hellwach und notierte die genaue Uhrzeit und die Nummer des Cinquecento. Er gehörte einer Pizzeria. Ein für dieses kleine Auto entschieden zu langer Mann stieg aus, drehte sich und verschwand mit einer Isolierbox im Haus. – Schon fast sieben Minuten. Für Casparis eindeutig zu lange, um bloss eine lauwarme Quattro formaggi abzuliefern. Und welcher normale Mensch, bitteschön, isst um diese Zeit eigentlich noch Znacht? Vielleicht war das ja die Spur, die er schon so lange suchte.

Obwohl es bereits über fünf Jahre her war, hatte es Reto Casparis immer noch nicht ganz weggesteckt, dass er damals bei der Zerschlagung der Mafia in Frauenfeld bloss zuschauen durfte. Das wäre es gewesen! Die einmalige Chance, die ganz grosse Nummer, der glanzvolle Höhepunkt eines ereignislosen Polizistenlebens. Eine Geschichte, die er bis an sein Lebensende immer wieder hätte erzählen können. Aber nein, während jüngere Kollegen den Mob zusammenfalteten, mit einem filmreifen Auftritt auf einen Schlag fünfzehn Mafiosi verhafteten und damit natürlich gross rauskamen, machte er – ja was machte er damals eigentlich? Er hatte keine Ahnung mehr, er hatte es längst vergessen.

Plötzlich tauchte der lange Pizzamann wieder im Hauseingang auf. Inzwischen waren kanpp zehn Minuten vergangen. Er hatte die schwarze Isolierbox nicht mehr dabei. Soso. Während der Fiat Richtung See davonfuhr, kramte Casparis seine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und kritzelte die Namen von den Briefkästen in seinen kleinen Notitzblock. Komische Namen waren das. »Und wieso habe ich es nicht einfach mit dem Handy fotografiert?« Das dachte er in dem Moment, als er gerade den letzten Namen aufgeschrieben hatte. Immerhin, nun hatte er etwas Schriftliches, eine Spur.

Am nächsten Tag fühlte er sich schon als Sieger. »Wenn die Fälle nicht zu mir kommen, gehe ich halt zu den Fällen!«, sagte Casparis. Und Max Scheiwiler, sein Chef, der sein schlichtes Gemüt gerne hinter Floskeln und Fremdwörtern versteckte, klopfte ihm auf die Schulter und nickte zufrieden: »Gut gemacht Reto, proaktiv antizipieren, zeitnah agieren!« Casparis war das Gewäsch von Scheiwiler scheissegal, er witterte seinen ganz grossen Moment. Denn er wollte ihn unbedingt, den späten Triumph. Aus den Scorsese-Filmen wusste er, dass hinter den Hintermännern immer weitere Hintermänner stehen, hinter den Paten weitere Paten und hinter den Padres die Padrones. Wenn man der Hydra den Kopf abschlägt, wachsen zwei nach. Das wusste er nicht von Scorsese, sondern von Dr. Dalbert, seinem Lateinlehrer am Gymnasium. Die angeblichen Köpfe der Ndrangheta, welche sich in Frauenfeld abschlagen liessen, soviel war für Casparis ja schon immer klar, das ging doch alles viel zu glatt! Ein Bauernopfer war das, nichts weiter. Wenn es zu reibungslos geht, steckt ja oft viel mehr dahinter. Aber was? Vielleicht war es in der schwarzen Styroporschachtel der Pizzeria. Das war durchaus möglich, aber war es auch wahrscheinlich? Vielleicht war auch nichts in der Pizzaschachtel und es war alles nur in seinem Kopf. Und verdichtete sich dort langsam und unaufhaltsam zu einer paranoiden Mafiamanie, einer verworrenen Zwangsneurose: Plötzlich gehörten alle dazu: Simone der Secondo aus Kalabrien mit der kleinen Garage an der Hauptstrasse, Antonio der Abwart mit der Invalidenrente und den pechschwarz gefärbten Haaren, Angelo der Fruttivendolo mit seinem Gemüseladen an der Ecke und seinen unglaublichen Geschichten von toten Tieren auf seiner Türschwelle. Am liebsten liesse er sie allesamt überwachen. Rund um die Uhr. Aber nicht mehr heute. Er schaute auf die Uhr, es war wieder spät geworden. Er machte einen Strich unter die Notitzen des letzten Tages.

»So Herr Casparis, es isch höchschti Ziit zum s’Liecht lösche!« Die sanfte Stimme der Psychiatriepflegerin mit den schwarzen Haaren holte ihn kurz in die Wirklichkeit zurück. Er legte seinen Notitzblock und den Stift präzis im rechten Winkel ausgetichtet aufs Nachttischli. Luisa Panettieri, stand auf ihrem Namensschild. War ja klar: Sie wussten also, dass er etwas wusste. War es schon gefährlich für ihn? Oder noch nicht? Mit diesen Gedanken im Kopf zog er die Bettdecke unters Kinn. Ein paar Minuten später schlief ein und träumte weiter.

©2024 Hardy Hemmi | mail@hardyhemmi.ch